Wenn die Form den Takt angibt
Funktionale Struktur wird zu stillem Schauspiel
Der Grundsatz „Form folgt Funktion“ wurde im 19. Jahrhundert vom amerikanischen Architekten Louis Sullivan geprägt. Er beschreibt eine Welt, in der die Gestalt eines Objekts direkt aus seiner Aufgabe erwächst - klar und nüchtern. Dabei hat alles einen praktischen Zweck und muss funktionieren.
Mich interessiert das Gegenteil. Vielleicht hast Du Dich auch schon gefragt, was passiert, wenn man diesen Grundsatz umkehrt?
In meiner Arbeit löse ich architektonische Elemente aus dem Zweck, für den sie entworfen wurden. Ich nehme ihnen ihre Aufgabe und lasse nur Linien, Flächen und Farben zurück. Ohne die ursprünglich funktionale Bindung verändert sich ihre Wirkung.
Für mich sind diese Formen wie eigenständige Figuren. Sie treten in einen neuen Dialog miteinander - oder mit anderen Elementen, die ich ins Bild nehme, etwa eine Person oder den Himmel. Durch Perspektive, Ausschnitt und Komposition verwandle ich diese Fragmente in etwas Eigenes: eine Bildwelt, die sich von der ursprünglichen Architektur löst und in meine eigene Bildsprache übersetzt wird.
Es ist wie ein Akt der Befreiung und die fotografierte Architektur wird zum Selbstzweck: Aus reiner Struktur entsteht ein stilles Schauspiel. In meinen Bildern gibt die Form den Takt vor - und vielleicht auch Dir den Impuls, Architektur mit anderen Augen zu sehen.
Hier ein konkretes Beispiel: Im ersten Bild siehst Du die Szene in ihrer funktionalen Realität. Im zweiten Bild die Übersetzung in meine eigene Bildsprache, befreit von Zweck und Alltagslogik:
Szene im Alltag - Foto: Harry Lieber
“PERSPECTIVES - FLOWER AND TOWER - Mailand” (C) Harry Lieber
Welche Perspektive würdest Du entdecken, wenn Du die Welt für einen Moment mit meinen Augen sehen könntest?